Harry und Sally

Vote Baby Vote

Ich war Kreuzchen machen. Was ich gewählt habe und warum soll geheim bleiben, weil sowieso schnurz. Ich möchte mit dieser Alltagsanekdote lediglich verdeutlichen, warum es (gerade heute) wichtig ist, überhaupt wählen zu gehen.

Da ich wusste, dass ich am Wahlsonntag nicht in Berlin sein werde, blieb nur die Briefwahl oder der Gang ins Briefwahllokal, wo man auch schon vorher seine Stimme abgeben kann. Für mich und Harry hieß es also vamanos a Köpenick.
Ich verbinde viel mit dieser Ecke, bin hier ein paar Jahre zur Schule gegangen, hatte Freunde hier, war hier mal verliebt, bin in der Nähe aufgewachsen. Jedes Mal ist es wie eine kleine Zeitreise. Meistens eine (Zeit)Reise zur Erholung, raus ins Grüne, an den Müggelsee, die Müggelberge, schön kann man hier leben … Seit der Wende hat sich vieles gemausert, der Bezirk ist mittlerweile angesagt, die Immobilienpreise steigen, hübsche Einfamilienhäuser mit neu gemachten Fassaden und Anbauten säumen die Straßen. Klar gibt es auch hier die Abgehängten, sowieso schon immer auch viel Unzufriedenheit. Und etwas, das bei manchen noch tiefer sitzt.

Die Bezirksgrenze wird bereits durch eine höher werdende Frequenz an (unbeschädigten) AfD und NPD Plakaten sichtbar. Nicht erst seit den Anwohnerprotesten gegen hier gebaute Flüchtlingsunterkünfte steht Köpenick in der Kritik, etwas brauner zu ticken. Hier wurde schon immer auch gerne stramm rechts oder zumindest konservativ gewählt. In meiner Schulklasse (einem Gymnasium) gab es eine klare politische Aufteilung. Es gab die Nirvana-Kids, Kiffer, Grunge-Look, Che Guevara Fans. Und es gab die Nazi-Kids. Das schreibe ich so, denn sie selbst machten keinen Hehl daraus. Jungs, die Bomberjacke, kurzgeschorene Haare und eindeutig zuzuordnende Markenklamotten trugen, die schon im präpubertären Stadium martialisch wirkten, die Eklats auslösten – wie im Geschichtsunterricht, als wir uns einen Film über den Holocaust ansahen, über den Sascha* meinte, dass der Todesmarsch ins KZ aussehe wie die Loveparade. Ein Brüller bei den Nazi-Kids, ein Aufschrei beim Lehrer, der aber ohne große Konsequenzen blieb. Als wir eine Schülerwahl mit echtem Wahlzettel-Szenario durchspielten, wären die NPD, die damalige DVU und die Reps in unser theoretisches Schülerparlament gekommen. Auch das wurde zum Anlass für Diskussionen genommen, aber die Nazi-Kids blieben die Nazi-Kids.

Es waren die späten 90er – die Zeit von Jörg Haider, dem österreichischen Populisten mit den antisemitischen Parolen, der Schlagzeilen lieferte, provozierte. Und eben auch Applaus. Es waren die „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ Knospen, die immer deutlichere braune Blüten treiben würden. Heute umschwärmt der AfD Spitzenkandidat Gauland die Wehrmacht und es ist halt schon so.
Als wir an meiner ehemaligen Oberschule vorbeifahren, frage ich mich, was meine Ex-Mitschüler mit der Neonazi-Gesinnung heute so treiben, ob sie noch hier wohnen. Und hier wählen gehen.

 

Die relativ lange Schlange im Rathaus Köpenick bestätigte Prognosen, die von einer signifikant höheren Wahlbeteiligung als zur letzten Bundestagswahl ausgehen. Gut so. Und doch war ich mir sicher, dass hier – eben gerade hier – viele ihr Kreuz machen werden, weil sie von der angeblichen „Mut zur Wahrheit“ motiviert werden, weil sie „sich trauen sollen“ – „für Deutschland“ versteht sich. Das ältere Paar vor mir war ein klarer Fall. Für mich jedenfalls. Ich rümpfte die Nase. Mein Harry rümpfte über mich die Nase, beschwichtigend – man wisse es ja nicht genau. Böse, im Trend liegende Vorurteile, mit denen man sich doch nicht gemein machen möchte.

Schon gut, schon gut …

So wie ich Harry mit meiner AfD-Scannerei in den Ohren lag, konnte die Frau mit der blondgefärbten, fast schon trump-esken Haartolle und der Biotasche in der Hand offensichtlich auch nicht aufhören, sich bei ihrem Mann zu beschweren. „Der meinte schon, die zählen nicht richtig aus!“ zischte sie ihm ins Ohr und ging immer wieder mit sinister kritischer Miene an den vor uns Wartenden vorbei, spähte ins Wahlzimmer, kam zurück, tuschelte wieder. Typisches Wutbürgergewusel; die AfD hat ihre Fans ja auch dazu aufgerufen, Wahlbeobachter zu spielen. Ihr graumelierter Bürstenhaarschnitt-Gatte mit Kleingärtner-Statur schien das kalt zu lassen, er nickte nur stumm, resigniert irgendwie. Dann sagte sie wieder etwas, als sie zurückkam, das ich nicht überhören konnte, auch wenn ich mich verhört haben wollte. Ich stieß Harry in die Seite.

„Hast du das eben mitgekriegt?“

„Was denn?“

„Ich glaub, die Frau hat gerade ‚Da sitzt ein N**** drin’ gesagt!!“

Konnte das sein? Hatte sie das gerade wirklich gesagt oder war das vielleicht eher ein „Da sitzt Herr Jäger drin.“ Weil man sich hier kennt. Oder so.  „Ich hab’s nich gehört, sorry. Lass doch gut sein …“ Harry vertiefte sich wieder in seine Kicker-App. Harry hat ja meistens recht – was will man sich mit wildfremden Menschen, dazu scheinbar (das offensichtlich hob ich mir bis dahin noch auf) dumm und selbstgerecht und rassistisch … zu diskutieren anfangen. Alles was einem bleibt, ist selbst sein Kreuzchen zu machen. Nur eben ohne Haken.
Als wir kurz vor der Tür standen, sah ich dann, worauf sie sich eben tatsächlich bezogen hatte: Einer der Wahlhelfer war dunkelhäutig. Während er gerade einer älteren Frau freundlich lächelnd die Wahlzettellage erklärte, fühlte ich die giftigen Blicke der bestätigten Rassisten-Frau  an ihm haften. Und meine giftigen Blicke galten ihr. Mein Vorurteil war bestätigt. Sie war das, wofür ich sie gehalten hatte, es war besiegelt, wo sie und ihr Mann gleich ihr Kreuz machen würden. Sie waren die, eine von denen.  Harry warf mir einen mitfühlend angewiderten, aber beschwichtigenden Blick zu.

Es ist so. Sie, die Rassistin hat das gleiche Wahlrecht wie ich – sie genießt die gleichen demokratischen Rechte, auf die sie wahrscheinlich allzu gerne schimpft. Bei manchen Menschen sitzt der Hass, so muss man es klar sagen, so tief, dass jegliche gut gemeinte Auseinandersetzung auf argumentativem Niveau scheitern muss. Und doch müssen wir bis zu einem bestimmten Grad mit den Überzeugungen dieser Menschen leben; darauf haben wir uns als Gesellschaft (gab’s doch mal?) geeinigt. Nie würde die tuschelnde Rassistin dem Wahlhelfer ins Gesicht sagen, was sie ihrem Mann in politisch inkorrekter Intimität zugesteckt hat. Sie macht nur ihr feiges, „geheimes“ Kreuz aus angeblichem „Mut“. Nie würde ich ihr eine klatschen (dürfen), was sich in diesem Moment auch ziemlich politisch unkorrekt anfühlt.

Ich habe ihr auch nicht ins Gesicht gesagt, was ich von ihr halte. Ich habe gewählt, so wie sie gewählt hat – geheim, aus Überzeugung, in der gleichen Kabine wie sie. Das Recht, dass wir haben, uns demokratisch gegen die Rassisten, die Menschenhasser, Kleingeistigen und Ewiggestrigen aussprechen zu dürfen sollte gleichzeitig eine Pflicht sein. Jedenfalls gerade in Zeiten, in denen demokratieverächtende Menschenhasser von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen. Mal sehen, wie meine alte Hood wählen wird … ich jedenfalls habe auch gewählt.

*Name durch Reaktion geändert

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